Die Mitte der Welt by Andreas Steinhöfel

Die Mitte der Welt by Andreas Steinhöfel

Autor:Andreas Steinhöfel [Steinhöfel, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg
veröffentlicht: 2016-12-14T23:00:00+00:00


DIANNE AUF DEM DACH

»Die Leidenschaften, meine Damen und Herren, die Leidenschaften! Lassen Sie sich nicht von ihnen beherrschen! Sie verwirren Ihren Verstand, unterwerfen Sie ihrer Kontrolle. Und kommen Sie mir nicht mit Hormonen oder dem Unterbewusstsein. Zügelung! Beherrschung!«

Händel stolzierte vor seinem Pult auf und ab. Nach jedem dritten oder vierten Schritt blieb er stehen, um kurz auf den Zehenspitzen zu wippen, kehrtzumachen wie ein Tanzpüppchen, dabei einen Blick über seine mehr oder minder aufmerksamen Zuhörer zu werfen und dann eine neue Salve von Sätzen auf uns abzufeuern.

»Einst gab es ein goldenes Zeitalter der Ratio. Die griechische Schule der Stoiker war ein aufrechtes Häuflein Tapferer, die die Existenz Gottes in den mannigfaltigen Erscheinungsformen der Natur und nicht an irgendwelchen Kreuzen festmachten. Die Stoiker erkannten in den Leidenschaften den größten Feind der Vernunft. Einige unter Ihnen dürften das schon an sich selbst erfahren haben: Die Lust feuert ihre Nebelgranaten ab und verschleiert so den ungetrübten Blick auf das, was hinter den Dingen liegt. Das aufkommende Christentum sah nun in der Stoa eine mächtige Konkurrenz und versuchte sich ihrer zu entledigen. Man machte sich – Verdrängung durch Assimilation – die Philosophie der Lustfeindlichkeit zu eigen und versuchte, den Menschen die Leidenschaften auszutreiben. Das Christentum tat dies notfalls mit Feuer und Schwert, immer aber mit leidenschaftlichem Eifer – sehen Sie, wie absurd das ist?

Letztlich standen beide Wertesysteme lange nebeneinander. So gelang es der Stoa, sich bis ins späte Mittelalter hinein zu halten und schließlich in der Aufklärung aufzugehen. Und schließlich prallten ihre Prinzipien in einem der größten und folgenreichsten Frontalzusammenstöße der Geistesgeschichte mit der Romantik zusammen, nicht wahr, und da wären wir dann.«

Angesichts etwa eines Dutzends heruntergeklappter Kinnladen konnte ich mir kaum vorstellen, dass irgendwer noch wusste, wo wir waren oder wie wir dorthin gekommen waren, doch jetzt ging Händel vom Allgemeinen zum Besonderen über.

»Ein Beispiel zur vielgestalten Natur der Leidenschaften. Sie alle kennen unser kleines städtisches Krankenhaus, dieses lavarote Backsteinkonstrukt, dessen Hässlichkeit einen anspringt wie ein tollwütiger Köter und dessen Fassade man längst einer Renovierung hätte unterziehen müssen, fürchterlich das, aber sei’s drum …«

Händel hatte Recht, das Krankenhaus war tatsächlich hässlich. Es ähnelte in keinster Weise der prächtigen entfernten Klinik, in der vor einem guten Jahrzehnt der Sitz meiner Löffelchen von Dr. Eisbert auf Stromlinienform gebracht worden war.

»Die wenigsten unter Ihnen«, fuhr Händel fort, »werden allerdings wissen, dass dieses Hospital auf den Grundmauern einer ehemals hier ansässigen Brauerei errichtet wurde, die in den späten zwanziger Jahren einem nächtlichen Großbrand zum Opfer fiel. Solche Dinge passieren, und in der Regel kann man sie einer nüchternen Betrachtungsweise unterziehen. Aber ging man, meine Damen und Herren, ging man seinerzeit von einer natürlichen Ursache des Brandes aus? Nein, Brandstiftung musste es gewesen sein! Und sprach man von Brandstiftung, der vielleicht nur ein schnöder Versicherungsbetrug zu Grunde lag? Selbstverständlich nicht, weil zu unromantisch, und da haben wir schon den leidenschaftlichen Salat, wenn Sie so wollen! Lassen wir mal das Personal der Geschichte außer Acht – ein Brauereibesitzer am Rande des Bankrotts nebst Familie mit hübscher, viel umworbener Tochter,



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